Entscheidungs 1Ob6/01s. OGH, 18-12-2001

ECLIECLI:AT:OGH0002:2001:0010OB00006.01S.1218.000
Record NumberJJT_20011218_OGH0002_0010OB00006_01S0000_000
Date18 Diciembre 2001
Judgement Number1Ob6/01s
CourtOberster Gerichtshof (Österreich)
Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in den verbundenen Rechtssachen der klagenden Partei Anna W*****, Innsbruck, Uferstraße 78, vertreten durch Dr. Wilfried Plattner, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei H***** AG, *****, vertreten durch Dr. Erwin Köll, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Nichtigerklärung der Verfahren 15 Cg 268/97g, 15 Cg 71/97g, 15 Cg 269/97d und 15 Cg 265/97s jeweils des Landesgerichts Innsbruck (Gesamtstreitwert der verbundenen Verfahren S 6,290.510,40 sA) infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 27. November 2000, GZ 2 R 263/00v-22, womit infolge Rekurses der klagenden Partei der Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 18. September 2000, GZ 41 Cg 124/00d-18, bestätigt wurde,

I. durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter am 27. November 2001 den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Es liegen die Voraussetzungen des § 8 Abs 1 Z 2 OGHG vor; zur Entscheidung über die Revision ist deshalb ein verstärkter Senat berufen.

II. durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Klinger, Dr. Maier, Dr. Angst, Dr. Petrag, Dr. Bauer und Dr. Kodek sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter den weiteren

Text

B e s c h l u s s

gefasst:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos behoben. Dem Erstgericht wird die Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung:

Am 13. 3. 1997 brachte die hier Beklagte - ein Kreditinstitut - gegen die nunmehrige Klägerin eine Wechselklage über den Betrag von 1 Mio S ein. Der am 17. 3. 1997 antragsgemäß erlassene Wechselzahlungsauftrag wurde der dort Beklagten am 18. 4. 1997 durch Hinterlegung zugestellt.

Am 5. 12. 1997 erhob die Beklagte gegen die Klägerin eine weitere Wechselklage über S 390.344. Der vom Erstgericht antragsgemäß am 10. 12. 1997 erlassene Wechselzahlungsauftrag wurde der Klägerin eigenhändig zugestellt.

Die Beklagte brachte ferner am 11. 12. 1997 eine Wechselklage über den Betrag von S 1,899.566,46 s.A. gegen die Klägerin ein. Der am 15. 12. 1997 antragsgemäß erlassene Wechselzahlungsauftrag wurde der Klägerin am 19. 12. 1997 durch Hinterlegung zugestellt. Deren Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einwendungsfrist wies das Erstgericht mit Beschluss vom 13. 3. 1998 ab.

Mit Klage vom 11. 12. 1997 begehrte die Beklagte schließlich von der Klägerin als Hypothekarschuldnerin die Zahlung eines Betrags von 3 Mio S bei Exekution in bestimmte Liegenschaftsanteile. Das-mit Ausnahme der Abweisung eines Zinsenmehrbegehrens-klagsstattgebende Ersturteil wurde der Klägerin am 25. 11. 1998 durch Hinterlegung gemäß den §§ 8, 23 ZustG bei Gericht zugestellt.

Beim zuständigen Bezirksgericht behängt ein Scheidungsverfahren, in dem die Klägerin beklagt ist. In der Verhandlungstagsatzung vom 6. 11. 1998 wendete sie ein, sie habe sich auf Grund der Ereignisse "in einem extremen nervlichen und psychischen Zustand befunden", sodass Zweifel an ihrer Prozessfähigkeit bestünden. Daraufhin wurde das Scheidungsverfahren gemäß § 6a ZPO ausgesetzt und der Akt dem Pflegschaftsgericht übermittelt. Die dort bestellte Sachverständige gelangte in ihrem Gutachten vom 15. 12. 1998 zu dem Schluss, die nunmehrige Klägerin leide an einer deutlich manischen Psychose bei MDK; zur Zeit seien alle typischen Symptome einer manischen Psychose nachweisbar, die sich in Antriebssteigerung, Ideenflüchtigkeit, manisch angehobener Stimmungslage mit Wechsel von Heiterkeit und Gereiztheit und allgemein gehobenem Lebensgefühl mit Unfähigkeit zur realen Einschätzung und adäquater Bewältigung der Lebenssituation äußere. Mit Beschluss vom 18. 1. 1999 wurde der bereits zuvor bestellte einstweilige Sachwalter zum Sachwalter der Klägerin mit dem Wirkungskreis des § 273 Abs 3 Z 2 ABGB bestellt, und zwar für die Vertretung vor Gericht, den Abschluss von Rechtsgeschäften und für finanzielle Angelegenheiten.

Da der Sachwalter erklärte, die bisherige Prozessführung im Scheidungsverfahren nicht zu genehmigen, wurde dort ein weiteres psychiatrisches Gutachten zur Frage eingeholt, ob die nunmehrige Klägerin auch im Zeitpunkt der Zustellung der Scheidungsklage prozessunfähig gewesen sei. Nach diesem am 7. 10. 1999 bei Gericht eingelangten Gutachten litt die nunmehrige Klägerin bereits seit 1968 an einer affektiven Psychose, die anfänglich in depressiven Phasen verlief und sich seit Herbst 1997 in einer ausgeprägten manischen Störung äußert. Die Klägerin habe somit während des gesamten Zeitraums vom 6. 10. 1997 bis 3. 2. 1998 an einer Geisteskrankheit im rechtlichen Sinn gelitten, weshalb sie nicht in der Lage gewesen sei, sich des Wesens und der Bedeutung der gegen sie erhobenen Klage bewusst zu sein, im Prozess ihre Rechte zu wahren und die Tragweite des Prozessführungsauftrags an den dazu ausgewählten Rechtsanwalt bzw den Zweck der Vollmachtserteilung zu begreifen. Die nunmehrige Klägerin sei geschäftsunfähig gewesen und sei es noch immer.

Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass bei der Klägerin zumindest seit März 1996 eine Einschränkung der Diskretions- und Dispositionsfähigkeit gegeben ist.

Mit ihren je am 8. 11. 1999 beim Erstgericht eingelangten, in der Folge zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Klagen begehrte die Klägerin, die genannten Entscheidungen und das diesen vorangehende Verfahren einschließlich der Klagszustellung als nichtig aufzuheben und die jeweiligen Klagebegehren ab-, in eventu zurückzuweisen. Aus den im Pflegschafts- und im Scheidungsverfahren eingeholten Gutachten ergebe sich, dass die Klägerin schon seit 1968 an einer affektiven Psychose leide und dass sie zumindest seit Herbst 1997 auf Grund psychischer Störungen geschäftsunfähig und damit auch prozessunfähig gewesen sei. Die Klägerin sei bei Zustellung sämtlicher Klagen im dargestellten Sinn betroffen gewesen. Da die Klagen nie einem gesetzlichen Vertreter der Klägerin zugestellt worden seien, seien die darüber abgeführten Verfahren nichtig. Die Nichtigkeitsklagen seien rechtzeitig erhoben, weil dem gesetzlichen Vertreter der Klägerin frühestens mit der Zustellung des im Scheidungsverfahren eingeholten Gutachtens am 11. 10. 1999 die Prozessunfähigkeit der Klägerin bekannt geworden sei. Zudem sei eine Zustellung der in den Vorverfahren ergangenen Entscheidungen an den gesetzlichen Vertreter der Klägerin nie erfolgt, sodass die Nichtigkeitsklage nicht verfristet sein könne. Nach neuerer Rechtsprechung sei die Nichtigkeitsklage auch bei bloßer Scheinrechtskraft zulässig.

Die Beklagte wendete dagegen die Verfristung der Klage ein. Die Scheinrechtskraft der angefochtenen Entscheidungen sei bereits im Zeitpunkt der Bestellung des Sachwalters vorgelegen und der Fristenlauf habe daher mit diesem Zeitpunkt im Jänner 1999 begonnen. Zweck der Bestellung sei gerade die Vertretung der Klägerin in verschiedenen Gerichtsverfahren gewesen. Dem Sachwalter sei bereits im Zeitpunkt seiner Bestellung die Geschäfts- und Prozessunfähigkeit der Klägerin bekannt gewesen. Das im Scheidungsverfahren eingeholte Sachverständigengutachten habe keine wesentlichen neuen Erkenntnisse gebracht.

Das Erstgericht wies die Klagebegehren wegen Verspätung zurück. Es traf die in ihren wesentlichen Teilen eingangs wiedergegebenen Feststellungen und führte in rechtlicher Beurteilung aus, nach ständiger Rechtsprechung setze die infolge eines Zustellmangels bloß scheinbar eingetretene Rechtskraft ("Scheinrechtskraft") den Fristenlauf des § 534 Abs 2 ZPO nicht in Gang. Die Nichtigkeitsklage sei bei nicht ordnungsgemäßer Zustellung dann zulässig, wenn die Lösung der Frage nach dem Eintritt der Rechtskraft von streitigen Tatsachen wie der Prozessunfähigkeit des Nichtigkeitsklägers zur Zeit des Vorverfahrens abhänge. In diesem Fall sei davon auszugehen, dass die vierwöchige Frist des § 534 ZPO mit dem Zeitpunkt beginne, zu dem dem Nichtigkeitskläger der Nichtigkeitsgrund bekannt geworden sei. Die Grundlagen für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage seien dem Sachwalter aber schon seit seiner Bestellung im Jänner 1999 bekannt gewesen, sei er doch bereits damals auf dem Standpunkt gestanden, dass die Klägerin bereits fünf Jahre früher bei Unterfertigung der Bürgschaftserklärungen geschäftsunfähig gewesen sei.

Das Gericht zweiter Instanz gab dem Rekurs der Klägerin nicht Folge und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Die Frist zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage nach § 529 Abs 1 Z 2 ZPO beginne gemäß § 534 Abs 2 Z 2 ZPO unabhängig von einer allfälligen früheren Kenntnis des Nichtigkeitsklägers mit der wirksamen Zustellung im Sinne des § 416 ZPO. Es bedürfe daher vor Einbringung der Nichtigkeitsklage bei behaupteter Prozessunfähigkeit jedenfalls der Zustellung an die Partei oder deren gesetzlichen Vertreter. Nach den Feststellungen des Erstgerichts sei die Klägerin nach wie vor prozessunfähig, sodass die von den Nichtigkeitsklagen betroffenen Entscheidungen erst ihrem gesetzlichen Vertreter zuzustellen seien, um die Frist des § 534 ZPO auszulösen. Dass dies bislang noch nicht der Fall gewesen sei, sei unstrittig. Eine vor Beginn der im § 534 ZPO normierten Frist eingebrachte Nichtigkeitsklage sei als verfrüht zurückzuweisen. Die Frage der Prozessfähigkeit müsse daher (zuerst) im Verfahren über die neuerliche Zustellung einer erst "scheinrechtskräftigen" Entscheidung geprüft werden. Damit erweise sich die Nichtigkeitsklage in Wahrheit nicht als verspätet, sondern als verfrüht.

Rechtliche...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT