Entscheidungs 8ObA20/12t. OGH, 13-09-2012

ECLIECLI:AT:OGH0002:2012:008OBA00020.12T.0913.000
Judgement Number8ObA20/12t
Date13 Septiembre 2012
Record NumberJJT_20120913_OGH0002_008OBA00020_12T0000_000
CourtOberster Gerichtshof (Österreich)
Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kuras und Dr. Brenn sowie die fachkundigen Laienrichter MMag. Dr. Robert Schneider und Johann Sommer als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache des Antragstellers Österreichischer Gewerkschaftsbund, 1020 Wien, Johann Böhm Platz 1, vertreten durch Milchram Ehm Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, gegen den Antragsgegner Verband Österreichischer Banken und Bankiers, 1010 Wien, Börsegasse 11, vertreten durch die CMS Reich-Rohrwig Hainz Rechtsanwälte GmbH in Wien, über den gemäß § 54 Abs 2 ASGG gestellten Antrag auf Feststellung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist der Pro-rata-temporis-Grundsatz nach § 4 Nr 2 der Rahmenvereinbarung im Anhang der Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15. 12. 1997 zur Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit (ABl L 14/1998 S 9, berichtigt durch ABl L 128/1998 S 71, in der durch die Richtlinie 98/23/EG, ABl L 131/1998 S 10, geänderten Fassung) auf eine in einem Kollektivvertrag (Tarifvertrag) normierte Kinderzulage, bei der es sich um eine Sozialleistung des Arbeitgebers zum teilweisen Ausgleich der finanziellen Unterhaltslasten der Eltern gegenüber dem Kind, für das die Zulage bezogen wird, handelt, aufgrund der Art dieser Leistung (als angemessen) anzuwenden?

2. Wenn Frage 1 verneint wird:

Ist § 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung im Anhang der Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15. 12. 1997 zur Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit (ABl L 14/1998 S 9, berichtigt durch ABl L 128/1998 S 71, in der durch die Richtlinie 98/23/EG, ABl L 131/1998 S 10, geänderten Fassung) dahin auszulegen, dass eine Ungleichbehandlung der Teilzeitbeschäftigten durch aliquote Minderung des Anspruchs auf Kinderzulage im Verhältnis zur Arbeitszeit - in Beachtung des weiten Ermessensspielraums der Sozialpartner bei Festlegung eines bestimmten sozial- und wirtschaftspolitischen Ziels und der für seine Erreichung geeigneten Maßnahmen - unter der Annahme sachlich gerechtfertigt ist, dass ein Aliquotierungsverbot

a) Teilzeitbeschäftigungen in Form der Elternteilzeit und/oder geringfügige Beschäftigungen während eines Elternkarenzurlaubs erschwert oder unmöglich macht und/oder

b) zu Wettbewerbsverzerrungen durch höhere finanzielle Belastungen der Arbeitgeber mit einer größeren Anzahl von Teilzeitbeschäftigten sowie zu einer Verringerung der Bereitschaft der Arbeitgeber zur Aufnahme von Teilzeitbeschäftigten führt und/oder

c) zur Begünstigung von Teilzeitbeschäftigten führt, die weitere Arbeitsverhältnisse in Teilzeitarbeit aufweisen und mehrfachen Anspruch auf eine kollektivvertragliche Leistung wie die Kinderzulage haben und/oder

d) zur Begünstigung von Teilzeitbeschäftigten führt, weil diese über mehr arbeitsfreie Zeit als Vollzeitbeschäftigte und daher über bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten verfügen?

3. Wenn die Fragen 1 und 2 verneint werden:

Ist Art 28 der Grundrechtecharta dahin auszulegen, dass in einem Arbeitsrechtssystem, in dem wesentliche Teile der arbeitsrechtlichen Mindeststandards nach den übereinstimmenden sozialpolitischen Einschätzungen besonders ausgewählter und qualifizierter Kollektivvertragsparteien geschaffen werden,

im Fall der (nach nationaler Praxis) Nichtigkeit lediglich einer (gegen ein unionsrechtliches Diskriminierungsverbot verstoßenden) Detailregelung in einem Kollektivvertrag (hier Aliquotierung der Kinderzulage bei Teilzeitarbeit) die gesamte kollektivvertragliche Vorschrift zu diesem Regelungsbereich (hier Kinderzulage) von der Nichtigkeitssanktion erfasst ist?

B. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

Text

Begründung:

I. Sachverhalt:

Die vom Geltungsbereich des zugrunde liegenden Kollektivvertrags (des Kollektivvertrags für Angestellte der Banken und Bankiers) erfassten Angestellten erhalten gestützt auf § 22 des Kollektivvertrags bei Vorliegen der Voraussetzungen eine so bezeichnete „Kinderzulage“ ausbezahlt. Diese Kinderzulage wird gemeinsam mit der „Familienzulage“ gemäß § 21 des Kollektivvertrags in der Abschnittsüberschrift als „Sozialzulage“ bezeichnet. Teilzeitbeschäftigte Angestellte erhalten die Kinderzulage nicht im vollem Ausmaß, sondern lediglich aliquotiert im Verhältnis des Ausmaßes ihrer Arbeitszeit. Die Anzahl teilzeitbeschäftigter Frauen überwiegt gegenüber der Anzahl teilzeitbeschäftigter Männer.

II. Unionsrechtliche Grundlagen:

Die nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs maßgebenden Bestimmungen der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit, die mit der Richtlinie 97/81/EG (ABl L 14/1998 S 9, berichtigt durch ABl L 128/1998 S 71, in der durch die Richtlinie 98/23/EG, ABl L 131/1998 S 10, geänderten Fassung) in den Rechtsbestand der Europäischen Union übernommen wurde, lauten:

㤠1 Ziel

Diese Rahmenvereinbarung soll

a) die Beseitigung von Diskriminierungen von Teilzeitbeschäftigten sicherstellen und die Qualität der Teilzeitarbeit verbessern;

b) die Entwicklung der Teilzeitarbeit auf freiwilliger Basis fördern und zu einer flexiblen Organisation der Arbeitszeit beitragen, die den Bedürfnissen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer Rechnung trägt.

§ 2 Anwendungsbereich

1. Die vorliegende Vereinbarung gilt für Teilzeitbeschäftigte, die nach den Rechtsvorschriften, Tarifverträgen oder Gepflogenheiten in dem jeweiligen Mitgliedstaat einen Arbeitsvertrag haben oder in einem Arbeitsverhältnis stehen.

2. Nach Anhörung der Sozialpartner gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, den Tarifverträgen oder [den] Gepflogenheiten können die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner auf der entsprechenden Ebene in Übereinstimmung mit den einzelstaatlichen Praktiken im Bereich der Arbeitsbeziehungen aus sachlichen Gründen Teilzeitbeschäftigte, die nur gelegentlich arbeiten, ganz oder teilweise ausschließen. Dieser Ausschluss sollte regelmäßig daraufhin überprüft werden, ob die sachlichen Gründe, auf denen er beruht, weiter vorliegen.

§ 3 Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieser Vereinbarung ist

1. „Teilzeitbeschäftigter“ ein Arbeitnehmer, dessen normale, auf Wochenbasis oder als Durchschnitt eines bis zu einem Jahr reichenden Beschäftigungszeitraumes berechnete Arbeitszeit unter der eines vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten liegt;

2. „vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter“ ein Vollzeitbeschäftigter desselben Betriebs mit derselben Art von Arbeitsvertrag oder Beschäftigungsverhältnis, der in der gleichen oder einer ähnlichen Arbeit/Beschäftigung tätig ist, wobei auch die Betriebszugehörigkeitsdauer und die Qualifikationen/Fertigkeiten sowie andere Erwägungen heranzuziehen sind. Ist in demselben Betrieb kein vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter vorhanden, so erfolgt der Vergleich anhand des anwendbaren Tarifvertrages oder, in Ermangelung eines solchen, gemäß den gesetzlichen oder tarifvertraglichen Bestimmungen oder den nationalen Gepflogenheiten.

§ 4 Grundsatz der Nichtdiskriminierung

1. Teilzeitbeschäftigte dürfen in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus sachlichen Gründen gerechtfertigt.

2. Es gilt, wo dies angemessen ist, der Pro-rata-temporis-Grundsatz.

… .“

Die maßgebenden Bestimmungen der Verordnung 883/2004/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166/2004 S 1, berichtigt durch ABl L 200/2004 S 1) lauten:

„Art 1 Definitionen

Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

z) „Familienleistungen“ alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I.

Art 3 Sachlicher Geltungsbereich

(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

a) Leistungen bei Krankheit;

b) Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellten Leistungen bei Vaterschaft;

c) Leistungen bei Invalidität;

d) Leistungen bei Alter;

e) Leistungen an Hinterbliebene;

f) Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten;

g) Sterbegeld;

h) Leistungen bei Arbeitslosigkeit;

i) Vorruhestandsleistungen;

j) Familienleistungen.“

III. Innerstaatliche Rechtsvorschriften:

Die relevanten Bestimmungen des zugrunde liegenden Kollektivvertrags (des Kollektivvertrags für...

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