Entscheidungs 9Ob15/12i. OGH, 17-12-2012

ECLIECLI:AT:OGH0002:2012:0090OB00015.12I.1217.000
Date17 Diciembre 2012
Judgement Number9Ob15/12i
Record NumberJJT_20121217_OGH0002_0090OB00015_12I0000_000
CourtOberster Gerichtshof (Österreich)
Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr.

Rohrer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf, Hon.-Prof. Dr. Kuras, Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. S

***** K*****, 2. mj T***** K*****, 3. A***** K*****, 1. bis 3. wohnhaft in *****, 4. A***** K*****, 5. mj S***** T*****, 6. mj A***** T*****, 7. mj. Z***** T*****, 5. bis 7. wohnhaft in *****, alle vertreten durch Lansky Ganzger & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wider die beklagte Partei R***** A*****, vertreten durch Karasek Wietrzyk Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 315.364,36 EUR sA, im Verfahren über den Revisionsrekurs des Beklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 26. Jänner 2012, GZ 12 R 160/11d-55, mit dem der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. August 2011, GZ 23 Cg 122/09v-49, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

I. Ist aus dem europarechtlichen „Äquivalenzprinzip“ bei der Durchsetzung des Rechts der Europäischen Union für ein Verfahrenssystem, in dem die zur Sachentscheidung berufenen ordentlichen Gerichte zwar auch die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen zu prüfen haben, ihnen aber die generelle Aufhebung der Gesetze verwehrt ist, sondern einem in besonderer Weise organisierten Verfassungsgerichtshof vorbehalten wurde, abzuleiten, dass die ordentlichen Gerichte beim Verstoß eines Gesetzes gegen Art 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), während des Verfahrens auch den Verfassungsgerichtshof zur allgemeinen Aufhebung des Gesetzes anrufen müssen und nicht bloß das Gesetz im konkreten Fall unangewendet lassen können?

II. Ist Art 47 GRC dahin auszulegen, dass er einer Verfahrensbestimmung entgegensteht, wonach ein international unzuständiges Gericht einen Abwesenheitskurator für eine Partei, deren Aufenthalt nicht festgestellt werden kann, bestellt und dieser dann durch seine „Einlassung“ verbindlich die internationale Zuständigkeit bewirken kann?

III. Ist Art 24 der Verordnung (EG) Nr 44/2001 des Rates vom 22. 12. 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) dahin auszulegen, dass nur dann eine „Einlassung des Beklagten“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, wenn die entsprechende Prozesshandlung durch den Beklagten selbst oder einen von ihm bevollmächtigten Rechtsvertreter gesetzt wurde oder gilt dies ohne Einschränkung auch bei einem nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates bestellten Abwesenheitskurator?

B. Das Verfahren wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Sachverhalt und bisheriges Verfahren:

1.1. Mit ihrer Klage begehren die Klägerinnen als Ehegattinnen bzw Kinder vom Beklagten Schadenersatz (Unterhalt, Schockschaden, Feststellungsbegehren) mit der Klagsbehauptung, dieser habe in Kasachstan deren Ehemänner bzw Väter entführt und verschleppt. Zur Zuständigkeit der österreichischen Gerichte machen sie geltend, dass der Beklagte seinen ordentlichen Wohnsitz im Sprengel des angerufenen Gerichts habe. Nachdem sich bei Zustellungsversuchen ergab, dass der Beklagte an den Zustelladressen keinen Wohnsitz mehr hat, wurde nach verschiedenen Zwischenschritten über Antrag der Kläger mit Beschluss vom 27. 8. 2010 ein Abwesenheitskurator nach § 116 der österreichischen Zivilprozessordnung (ZPO) bestellt. Dieser Abwesenheitskurator erstattete nach Zustellung der Klage eine Klagebeantwortung, in der er die Abweisung der Klage beantragte und zahlreiche inhaltliche Einwendungen erhob. Daraufhin gab der Beklagte bekannt, die nunmehr vertretende Rechtsanwaltskanzlei bevollmächtigt zu haben und ersuchte, in Zukunft alle Zustellungen an diese vorzunehmen. Nun wendete er auch die internationale Unzuständigkeit der österreichischen Gerichte ein. Der maßgebliche Sachverhalt habe sich in Kasachstan ereignet. Eine Heilung dieser Unzuständigkeit sei nicht eingetreten. Der Abwesenheitskurator habe mit ihm keinen Kontakt gehabt und habe auch keine Kenntnis von den maßgeblichen Umständen. Seinen Wohnsitz müsse der Beklagte wegen der Gefahr für sein Leben geheim halten. Er habe Österreich lange vor Klagseinbringung auf Dauer verlassen.

1.2. Das Erstgericht erklärte sich als international unzuständig und wies die Klage zurück. Es erachtete als bescheinigt, dass sich der Beklagte im Territorium der Republik Malta aufhält. Die Einlassung des Abwesenheitskurators stelle keine Streiteinlassung im Sinne des Art 24 EuGVVO dar.

1.3. Das Rekursgericht gab dem gegen diesen Beschluss erhobenen Rekurs der Kläger Folge und verwarf die Einrede der mangelnden internationalen Zuständigkeit. Im Ergebnis habe das Erstgericht als einzigen bekannten Aufenthaltsort die Republik Malta festgestellt (auch im Zeitpunkt der Gerichtsanhängigkeit). Die EuGVVO sehe eine Prüfpflicht des Gerichts nur bei Nichtteilnahme des Beklagten nach Art 26 EuGVVO vor. Im Übrigen sei die internationale Zuständigkeit nur über Einrede des Beklagten zu prüfen. Der Begriff der „Einlassung“ in Art 24 EuGVVO sei gemeinschaftsrechtlich autonom auszulegen. Innerhalb dieses Rahmens sei der Begriff aber durch das österreichische Zivilprozessrecht aufzufüllen. Der Prozesshandlung des zur Interessenwahrung verpflichten Abwesenheitskurators komme nach österreichischem Recht dieselbe Rechtswirkung zu wie jener eines rechtsgeschäftlich Bevollmächtigten.

Rechtsmittel und Rechtsmittelbeantwortungen:

2.1. Gegen diesen Beschluss richtet sich der zulässige (vgl etwa das Rechtsinformationssystem des Bundes, abrufbar unter http://193.58.211.1/Jus oder http://www.ris.bka.gv.at/Jus; RIS-Justiz RS0121604 mwN) Revisionsrekurs des Beklagten. Der Beklagte releviert zusammengefasst, dass es der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union widerspreche, einem Beklagten, der keine Kenntnis von einem Verfahren habe, seine Verteidigungsrechte zu nehmen. Die Entscheidung verstoße gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 der Europäischen Konvention für Menschenrechte (MRK) und Art 47 GRC.

2.2. Die Kläger stützen sich in ihrer Revisionsrekursbeantwortung zusammengefasst darauf, dass der Kurator nach § 116 der österreichischen Zivilprozessordnung jede Handlung setzen könne, andernfalls dessen Bestellung sinnlos wäre. Den Ausführungen des Beklagten zu Art 6 MRK/Art 47 der GRC halten die Kläger den Grundrechtsschutz auf ein effektives Gerichtsverfahren nach diesen Bestimmungen entgegen. Die Bestellung eines Abwesenheitskurators stelle insoweit ein grundrechtliches Erfordernis dar.

Zur österreichischen Rechtslage:

Im Sinne der Empfehlungen des Gerichtshofs der Europäischen Union wird von...

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