Entscheidungstexte nº G2/2013. VfGH. 01-10-2013

ECLIECLI:AT:VFGH:2013:G2.2013
Date01 Octubre 2013
VERFASSUNGSGERICHTSHOF
Verfassungsgerichtshof
Freyung 8, A-1010 Wien
www.verfassungsgerichtshof.at
G 2/2013-17
01.10.2013
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Der Verfassungsgerichtshof hat unter dem Vorsitz des
Präsidenten
Dr. Gerhart HOLZINGER,
in Anwesenheit der Vizepräsidentin
Dr. Brigitte BIERLEIN
und der Mitglieder
Dr. Markus ACHATZ,
Dr. Sieglinde GAHLEITNER,
DDr. Christoph GRABENWARTER,
Dr. Christoph HERBST,
Dr. Michael HOLOUBEK,
Dr. Helmut HÖRTENHUBER,
Dr. Claudia KAHR,
Dr. Georg LIENBACHER,
Dr. Rudolf MÜLLER,
Dr. Johannes SCHNIZER und
Dr. Ingrid SIESS-SCHERZ
als Stimmführer, im Beisein der Sc hriftführer
Mag. Dr. Florian GRATZL und
Dr. Valerie TROFAIER -LESKOVAR,
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in dem von Amts wegen eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungs-
mäßigkeit des § 140 Abs. 3 StPO idF BGBl. I 19/ 2004 nach der am 12. Juni 2013
durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung, nach Anhörung des
Vortrages der Berichterstatterin und der Ausführungen der Vertreter der Bun-
desregierung Mag. Philipp Cede sowie SC Mag. Christian Pilnacek, des Vertreters
der Datenschutzkommission Mag. Michael Suda und des Vertreters der beteilig-
ten Partei Rechtsanwalt Dr. Martin Riedl (für Rechts anwalt Dr. Walter Riedl)
gemäß Art. 140 B-VG zu Recht erkannt:
I. § 140 Abs. 3 der Strafprozeßordnung 1975, BGBl. Nr. 631, idF BGBl. I
Nr. 19/2004, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
II. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Oktober 2014 in Kraft.
III. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht w ieder in Kraft.
IV. Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche
im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.
Entscheidungsgründe
I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren
1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zur Zahl B 1408/2011 eine auf Art. 144 B-VG
gestützte Beschwerde anhängig, der zusammengefasst folgender Sachverhalt
zugrunde liegt:
1.1. Der Beschwerdeführe r war Polizeibeamter im Bereich des Landespolizei-
kommandos Wien (LPK Wien) un d befindet sich seit 1. Jänner 2011 im Ruhe-
stand. Im Jahr 2009 erstattete das LPK Wien gegen ihn wegen des Verdachts
verschiedener Disziplinarvergehen Disziplinaranzeige. In diesem Zusammenhang
wurde gegen den Beschwerdeführer wegen allfälliger gerichtlich strafbarer
Handlungen auch ein kriminalpolizeiliches Ermittlungsverfahren geführt, in dem
die Staatsanwaltschaft (nach gerichtlicher Bewilligung) eine auf die Mobilfunk-
nummer des Beschwerdeführers bezogene Rufdaten- und Standortdaten-
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rückerfassung anordnete. Die ermittelten Daten der Nachrichtenübermittlung
wurden der Staatsanwaltschaft und dem LPK Wien zur Kenntnis gebracht.
Das Strafverfahren wurde – soweit es mit den angeführten verdeckten Ermitt-
lungen im Zusammenhang stand – durch Einstellung (3. März 2010), im Übrigen
durch Freispruch (17. A ugust 2010) beendet.
1.2. Die in der Folge vom Beschwerdeführer wegen Verletzung im Recht auf
Geheimhaltung durch Verwendung der für Zwecke des Strafverfahrens erhobe-
nen Daten im Disziplinarverfahren bei der Datenschutzkommission eingebrachte
Beschwerde wurde mit Bescheid vom 21. Oktober 2011 abgewiesen, weil die
Daten im Strafverfahren rechtmäßig ermittelt worden seien und daher allen falls
von den Justizbehörden zu löschen wären. Die – parallel ermittelnde – Diszipli-
narkommission habe die strafrechtlichen Daten iSd Ermächtigung des § 140
Abs. 3 StPO weiterverwenden und als Beweismittel verwerten dürfen.
2. Bei Behandlung der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde sind beim
Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 140 Abs. 3
StPO entstanden. Es wurde daher am 12. Dezember 2012 beschlossen, diese
Gesetzesbestimmung von Amts wegen auf ihre Verfassung smäßigkeit zu prüfen.
3. Der Verfassungsgerichtshof legte die Bedenken, die ihn zur Einleitung des
Gesetzesprüfungsv erfahrens bestimmt haben, folgendermaßen dar:
"2.1. Vorangestellt sei, dass § 140 Abs. 3 StPO nach der vorläufigen Auffassung
des Verfassungsgerichtshofes hinsichtlich der Verwendung von Daten, die in
einem Strafverfahren legitimerweise ermittelt wurden, in anderen gerichtlichen
und verwaltungsbehördlichen Verfahren eine abschließende Regelung darstellt,
sodass die (insoweit verdrängte) Bestimmung des § 8 Abs. 4 Z 2 DSG 2000 auf
derartige Fälle nicht anwendbar sein dürfte.
2.2. Der Verfassungsgerichtshof hegt das Bedenken, dass die in Prüfung genom-
mene Vorschrift nicht nur ein Beweisverwertun gsverbot in Bezug auf unrecht-
mäßig ermittelte Daten normiert, sondern darüber hinaus eine generelle Er-
mächtigung zur Verwendung von in einem Strafverfahren rite erhobenen
Ergebnissen iSd § 134 Z 5 StPO – nämlich die Beschlagnahme von Briefen (§ 134
Z 1 StPO), die Auskunft über Daten einer Nachrichtenübermittlung (§ 134 Z 2
StPO), die Überwachung von Nachrichten (§ 134 Z 3 StPO), die optische und
akustische Überwachung von Personen (§ 134 Z 4 StPO) – als Beweismittel in
(allen) anderen gerichtlichen und verwaltungsbehördlichen Verfahren enthält
und daher dem Grundrecht auf Datenschutz widerspricht.
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