Entscheidungs 10Ob2/23a. OGH, 21-02-2023

ECLIECLI:AT:OGH0002:2023:0100OB00002.23A.0221.000
Date21 Febrero 2023
Judgement Number10Ob2/23a
Record NumberJJT_20230221_OGH0002_0100OB00002_23A0000_000
CourtOberster Gerichtshof (Österreich)
Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch die Präsidentin Hon.-Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober, Dr. Thunhart und Dr. Annerl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ing. C*, vertreten durch die Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagten Parteien 1. P* GmbH & Co KG, *, und 2. V*, Deutschland, beide vertreten durch die Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen Vertragsaufhebung und 22.201,76 EUR sA, in eventu 6.000 EUR, in eventu Feststellung, infolge Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 16. November 2022, GZ 4 R 100/20p-30, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 22. Mai 2020, GZ 20 Cg 21/18z-25, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

I. Dem Rekurs wird hinsichtlich der erstbeklagten Partei Folge gegeben.

Der Beschluss des Berufungsgerichts wird in diesem Umfang aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts gegen die erstbeklagte Partei als Teilurteil zu lauten hat:

1. Der zwischen der klagenden Partei und der erstbeklagten Partei abgeschlossene Kaufvertrag vom 31. März 2015 über den Ankauf des VW Tiguan Lounge TDI BMT, Fahrgestellnummer: *, um 26.890 EUR wird aufgehoben.

2. Die Klageforderung gegen die erstbeklagte Partei besteht mit 22.201,76 EUR zu Recht.

3. Die Gegenforderung der erstbeklagten Partei besteht mit 2.875,45 EUR zu Recht.

4. Die erstbeklagte Partei ist daher schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 19.326,31 EUR samt 4 % Zinsen pa aus 26.890 EUR von 1. April 2015 bis 10. Jänner 2018, aus 22.201,76 EUR von 11. Jänner 2018 bis 22. Oktober 2019 und aus 19.326,31 EUR seit 23. Oktober 2019 Zug um Zug gegen Rückgabe des Kraftfahrzeugs VW Tiguan Lounge TDI BMT, Fahrgestellnummer * zu zahlen.

5. Das Mehrbegehren, die erstbeklagte Partei sei darüber hinaus schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 2.875,45 EUR sowie 4 % Zinsen pa aus 4.688,24 EUR von 11. Jänner 2018 bis 22. Oktober 2019 und aus 7.563,69 EUR seit 23. Oktober 2019 Zug um Zug gegen Rückstellung des genannten Kraftfahrzeugs zu zahlen, wird abgewiesen.

6. Die erstbeklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 9.625,69 EUR (darin 1.534,41 EUR Barauslagen und 1.348,55 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz zu ersetzen.

7. Die Entscheidung über die Ersatzpflicht der erstbeklagten Partei für einen weiteren Kostenbetrag von 1.166,47 EUR (darin enthalten 74,30 EUR Barauslagen und 182,03 EUR Umsatzsteuer) bleibt der Kostenentscheidung nach rechtskräftiger Entscheidung über das gegen die zweitbeklagte Partei erhobene Klagebegehren vorbehalten.

Die erstbeklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 3.365,75 EUR (darin 994,41 EUR Barauslagen und 395,23 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens zweiter Instanz sowie die mit 3.785,20 EUR (darin 1.327,62 EUR Barauslagen und 409,60 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens dritter Instanz zu ersetzen.

Die Entscheidung über die Ersatzpflicht der erstbeklagten Partei für einen weiteren Kostenbetrag von 622,22 EUR (darin enthalten 114,30 EUR Barauslagen und 34,43 EUR USt des Verfahrens zweiter und 152,60 EUR Barauslagen und 24,79 EUR USt des Verfahrens dritter Instanz) bleibt der Kostenentscheidung nach rechtskräftiger Entscheidung über das gegen die zweitbeklagte Partei erhobene Klagebegehren vorbehalten.

II. Hinsichtlich der zweitbeklagten Partei wird das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über den vom Landgericht Ravensburg (Deutschland) am 17. Februar 2021 beim Europäischen Gerichtshof eingereichten, zu C-100/21 des Europäischen Gerichtshofs behandelten Antrag auf Vorabentscheidung unterbrochen. Die Fortsetzung des Rekursverfahrens erfolgt nur auf Antrag.

Text

Begründung und Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger kaufte mit Vertrag vom 31. März 2015 von der Erstbeklagten den von der Zweitbeklagten hergestellten VW Tiguan Lounge TDI BMT um einen Kaufpreis von 26.890 EUR. Das am 25. März 2015 erstmals zum Verkehr zugelassene Fahrzeug wies zum Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses einen Kilometerstand von 500 km auf.

[2] Das Fahrzeug fällt unstrittig in den Anwendungsbereich der VO (EG) Nr 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20 Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl L 171/1 vom 29. 6. 2007; künftig: VO 715/2007/EU). Es ist mit einem Dieselmotor des Typs EA189 der Abgasklasse EU 5 ausgestattet.

[3] Der Dieselmotor war mit einer Software ausgestattet, die bewirkte, dass dieses Fahrzeug am Prüfstand (NEFZ) die Stickoxid-(NOx-)Werte der Euro 5 Abgasnorm einhielt, während es im normalen Fahrbetrieb auf Straßen einen deutlich höheren NOx-Ausstoß aufwies, weil im normalen Straßenverkehr (Modus 0 oder Standardmodus 0) weniger Abgase rückgeführt wurden als am Prüfstand (Modus 1 oder NEFZ-Modus 1). Die Abgasrückführung dient vor allem der Reduktion der NOx-Werte. Ein Teil des bei der motorischen Verbrennung entstandenen Gases wird dem Verbrennungsmotor rückgeführt und dort mit Frischluft vermengt, wodurch der Sauerstoffgehalt der Frischluft und dadurch die Verbrennungstemperatur absinkt, und es im Verbrennungsprozess zu niedrigeren NOx-Emissionen kommt. Wird die Abgasrückführung erhöht, so sinken die NOx-Emissionen, die Rußemissionen aber steigen an. Die Rußemissionen werden sodann im Dieselpartikelfilter gesammelt und in regelmäßigen Abständen abgebrannt.

[4] Für den gegenständlichen Fahrzeugtyp wurde vom zuständigen deutschen Kraftfahrt-Bundesamt (künftig: KBA) die EG-Typengenehmigung erteilt. Die „Umschaltlogik“ (Standardmodus 0 und NEFZ-Modus 1) war der Typengenehmigungsbehörde gegenüber nicht offengelegt.

[5] Am 15. Oktober 2015 verhängte das KBA der Zweitbeklagten gegenüber eine „Nachträgliche Anordnung einer Nebenbestimmung zur EG-Typengenehmigung“ gemäß § 25 Abs 2 (deutsche) EG-FGV (Verordnung über die EG-Genehmigung für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbständige technische Einheiten für diese Fahrzeuge, EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung), mit der es (ua) anordnete, zur Gewährleistung der Vorschriftsmäßigkeit der genehmigten Aggregate des Typs EA189 EU 5 die unzulässigen Abschalteinrichtungen zu entfernen.

[6] Um den vom KBA geforderten Zustand herzustellen, hat die Zweitbeklagte ein Software-Update entwickelt. Dieses bewirkt, dass die „Umschaltlogik“ eliminiert wird, wodurch das Fahrzeug durchgehend im Modus 1 betrieben wird.

[7] Das sogenannte „Thermofenster“ bleibt auch nach Durchführung dieses Software-Updates im jeweiligen Fahrzeug. Bei diesem handelt es sich um eine in allen gemäß Euro 5 akkreditierten Fahrzeugen verbaute Abschalteinrichtung, die dazu dient, dass die volle Abgasrückführung nur in einem Temperaturbereich zwischen 15 Grad Celsius und 33 Grad Celsius erfolgt. Bei Temperaturen darüber oder darunter wird die Abgasrückführung sukzessive reduziert, weil bei zu geringen Temperaturen die Gefahr einer Versottung besteht und es bei zu hohen Temperaturen zu erhöhten thermischen Belastungen und einem Versagen oder einer Beschädigung der Bauteile kommen könnte. Das Thermofenster dient vor allem der Schonung von Anbauteilen des Motors.

[8] Am 1. Juni 2016 gab das KBA das von der Zweitbeklagten entwickelte Software-Update betreffend den gegenständlichen VW Tiguan Lounge frei. Gleichzeitig wurde festgehalten, dass die Überprüfung der Fahrzeuge nach erfolgtem Software-Update erneut durchgeführt wurde und nunmehr keine unzulässige Abschaltvorrichtung vorliege. Der Kläger wurde hierüber von der Erstbeklagten mit Schreiben vom 26. August 2016 informiert und aufgefordert, sich wegen des Updates mit einem VW-Betrieb seiner Wahl in Verbindung zu setzen. Dieser Aufforderung kam der Kläger jedoch nicht nach. Er ließ das Software-Update bei seinem Fahrzeug nicht durchführen, weil dies für ihn keine Lösung darstellt.

[9] Der Kläger hatte bislang keine Probleme mit dem Fahrzeug und konnte es ohne Einschränkungen nutzen. Es besteht jedoch theoretisch die Möglichkeit, sollte das von der Zweitbeklagten entwickelte Software-Update nicht durchgeführt werden, Fahrzeuge zu einer „besonderen Überprüfung“ gemäß § 56 Kraftfahrgesetz vorzuladen.

[10] Der Kläger ging beim Abschluss des Kaufvertrags davon aus, dass das Fahrzeug den geltenden Normen entspricht. Er wollte kein Fahrzeug, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Weder der Kläger noch die Erstbeklagte waren zum Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses in Kenntnis der bei dem Fahrzeug verbauten Software; diese war auch nicht erkennbar. Wäre dem Kläger bei Abschluss des Kaufvertrags bekannt gewesen, dass sein Fahrzeug mit einer Abschalteinrichtung ausgestattet ist, die von der akkreditierenden Behörde als unzulässig eingestuft und aufgrund derer der Entzug der Zulassung droht, hätte er diesen nicht abgeschlossen.

[11] Das Fahrzeug des Klägers hatte zum Schluss der mündlichen Verhandlung einen Kilometerstand von 70.680 km, weist keine Kollisionsschäden auf, befindet sich in einem, dem Alter von etwas mehr als 4 ½ Jahren entsprechenden, durchschnittlichen Zustand und hat einen Eurotaxwert (blau) von 12.200 EUR. Der Listenneupreis betrug 32.425 EUR, sodass sich beim tatsächlichen Kaufpreis von 26.890 EUR ein dem Kläger gewährter Rabatt von 17 % errechnet, womit über den Rabatt der initiale Wertverlust des Fahrzeugs abgedeckt ist.

[12] Der Kläger macht Ansprüche aus Schadenersatz, Gewährleistung und Vertragsanfechtung wegen Willensmangels gegenüber der Erstbeklagten und aus Schadenersatz gegenüber der Zweitbeklagten geltend. Er begehrt gegenüber der Erstbeklagten die...

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